In fast ursprünglichen Zustand erhalten und Zeugnis seiner Zeit: Das denkmalgeschützte Bauwerk ist viel mehr als ein Lost Place

Der Atomschutzbunker unter Vegesack

Lost Places sind begehrte Fotomotive. Ob stillgelegtes Krankenhaus, vergessener Freizeitpark, verlassene Wohngebäude oder außer Betrieb gesetzte Fabriken: Orte, die sich selbst überlassen wurden, gibt es überall. Auch mitten in Großstädten und bewohnten Gebieten. In Bremen-Nord gehören dazu das Kino Scala in der Breiten Straße sowie die Bowlingbahn im Untergeschoss des Stadthauses. Letztere wurde inzwischen abgebaut und auch der Kinosaal steht kurz vor dem Abriss. Es gibt aber noch einen weiteren Ort, der den Charme eines Lost Place besitzt: der Atomschutzbunker unter dem Sedanplatz.

Völlig „lost“ ist die Mitte der 70er-Jahre gebaute Zivilschutz-Mehrzweckanlage jedoch nicht, denn 2020 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Trotzdem haben nur wenige Menschen Zugang zu diesem fast unversehrten Dokument des Kalten Krieges – und es ist auch nicht absehbar, dass sich das bald ändert. Dabei leben wir in einer Zeit, in der Zivil-, Bevölkerungs- und Katastrophenschutz wieder stärker in den Fokus rücken. Und es braucht Wege, um die aktuellen und zukünftigen Entwicklungen reflektiert einordnen zu können. Eine Möglichkeit, sich mit ihnen fakten- und geschichtsbasiert sowie greifbar auseinandersetzen, würde der Vegesacker Atomschutzbunker bieten.

Blick durch das Parkdeck unter dem Sedanplatz das als Schutzraum für 2 X 2000 Menschen dienen sollte



Übernachtung im Lost Place gefällig? Notbetten im Atomschutzbunker Vegesack.

Eine unter vielen und trotzdem besonders

Die Mitte der 70er-Jahre gebaute Zivilschutz-Mehrzweckanlage befindet sich im letzten Geschoss der dreistöckigen Tiefgarage. Ich erinnere mich, wie meine Mutter zum Parken hin und wieder bis auf das unterste Deck fuhr. Dabei entdeckte ich die Eisenstangen, die dort heute noch von der Decke hängen. Auf meine Frage, was das sei, erklärte mir meine Mutter, dass das Parkhaus ein Bunker sei und die Gestänge Betten. Seither betrachtete ich die unterirdischen Räume mit anderen Augen und suchte auch in allen Tiefgaragen nach ähnlichen Anzeichen. Fündig wurde ich jedoch nicht und das, obwohl es deutschlandweit einige Zivilschutz-Mehrzweckanlagen dieser Art gibt. Also Bauten, die in einer Kombination aus Schutzraum und Parkhaus angelegt wurden. In Berlin beispielsweise errichtete man im zweiten Geschoss der Tiefgarage unter dem Kudamm-Karree einen zivilen Schutzraum. In Städten wie Fürth, Essen, Stuttgart, Rottweil und Krefeld sind ebenfalls Bunker mit einem Parkhaus gekoppelt. Die Ausstattung der Räume unterscheidet sich allerdings stark. So besitzt der in der Rathaus-Tiefgarage in Krefeld zwar Lüftungsanlagen und eine Wasserversorgung, aber nur rudimentäre sanitäre Anlagen. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln gehörte dort nicht zum Konzept.



Die letzte öffentliche Besichtigung fand 1975 statt

Alle Anlagen verbindet, dass sie bei Angriffen mit ABC-Waffen Schutz bieten sollten. Und dass sie – so wie die unterirdischen Räume in Vegesack – stillgelegt wurden. Einige können besichtigt werden, wenige beherbergen ein Museum, die meisten wurden zurückgebaut oder komplett abgeriegelt. Oft lässt sich die ursprüngliche Funktion des Parkhauses nur noch erahnen. Nicht so in Vegesack! Die 1975 eröffnete Zivilschutzanlage ist die größte ihrer Art in Bremen und die einzige deren Ausstattung erhalten geblieben ist. Sie ist ein Zeitdokument des Kalten Krieges, das in beinahe einwandfreiem Zustand. Aus diesem Grund steht sie seit 2020 unter Denkmalschutz. Viel gemacht wird daraus allerdings nicht.

Besonders viel Interesse, das Bauwerk zugänglich zu machen, hat wohl auch noch nie bestanden. So gab es lediglich nach der Fertigstellung des Bunkers eine öffentliche Besichtigung, zu der alle interessierten Bürger eingeladen waren. Das war 1975.



Lost Place oder wichtiger Zufluchtsort: Betten in der Krankenstation im Schutzbunker in Bremen-Nord

Ein Parkhaus das 4000 Menschen vor ABC-Angriffen schützen sollte

Nur zu wenigen Gelegenheiten im Jahr kann man die Räume erkunden. Die Termine für die Führungen sind rar und entsprechend heiß begehrt. Sie beginnen mit dem Hinabsteigen in den Bunker über eines der vier Treppenhäuser. Einige werden als Zugang zum Parkhaus genutzt und sind deshalb normal in Gebrauch. Irgendwann verlässt man diesem täglich frequentierten Bereich jedoch und die Treppen münden über eine schwere Stahltür in einem großen leeren Raum. Es ist die Schleuse, in der die Ankommenden dekontaminiert werden. Das übernimmt eine kleine, mit Spezialmittel gefüllte Dusche. Wir erfahren, dass auf diese Weise verseuchte Rückstände und Staub abgespült werden sollten, damit der Schutzraum nicht kontaminiert wird. Egbert Heiß, der die Bunkerführungen leitet, kann noch mehr über das Bauwerk erzählen. Zum Beispiel, dass 4000 Menschen darin Platz finden und dass er aus zwei selbstständigen Schutzräumen besteht. Diese funktionieren unabhängig voneinander. „Falls einer aus irgendwelchen Gründen nicht genutzt werden kann“, erklärt Heiß.

So viele Menschen müssen natürlich versorgt werden, brauchen sanitäre Anlagen und Schlafplätze. Letztere werden in die Stangen gehängt, die ich aus meiner Kindheit kenne. In beiden Schutzräumen gibt es jeweils eine Küche, Waschräume, Toiletten und ein Krankenzimmer. Auch in letzterem hängen mehrere Betten übereinander.



Eine Frage bleibt ungeklärt: Wer hätte in den Bunker gedurft?

Mit einer E-Zentrale, der unabhängigen Wasserversorgung über vier Tiefbrunnen, einer Schmutzwasserhebeanlage und eigenen Energieversorgung, Filter- und Lüftungsanlagen kann der Bunker autark und abgeschlossen von der Außenwelt betrieben werden – allerdings nur zwei bis maximal drei Wochen. Danach sind alle Ressourcen aufgebraucht und die Schutzsuchenden müssen zurück an die Oberfläche. Für einen Angriff mit Bomben, chemischen oder biologischen Mitteln mag das genügen, was ist jedoch, wenn eine Atombombe explodiert? Laut dem aktuellen Bremer Katastrophen- und Zivilschutzexperte Karl-Heinz Knorr gelten in solchen Fällen zwei Wochen als Richtwert. Danach habe sich ein Großteil der radioaktiven Nuklide, die eine Atombombe freisetzt, zersetzt. Ein Aufenthalt im Freien sollte dann wieder möglich sein.

Eine Frage, die während der Führung oft gestellt wurde, aber ungeklärt bliebt, ist die danach, wer in dem Bunker Schutz suchen durfte. Wurde nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst“ verfahren? Oder gab es Anweisungen, nach denen bestimmte Personengruppen bevorzug eingelassen werden sollten? Vielleicht sogar Listen? Darüber kann nur spekuliert werden. Weder Horst Bullmahn, der über Jahrzehnte für den Zivil- und Katastrophenschutz in Bremen zuständig war und lange die Führungen durch die Vegesacker Schutzanlage gab, noch Egbert Heiß wussten auf die Frage eine Antwort.

Lost Place mit Verbindung zur Außenwelt: Blick aus dem Zimmer des Bunkerwarts in den Dekontaminationsraum. Dahinter das Treppenhaus zum aktiven Parkhaus.
Waschräume vollgestellt mit Material, abgefallene Spiegel und sich lösende Ketten. Der Bunker wirkt wie ein Lost Place.

Trotz Stilllegung in fast ursprünglichem Zustand erhalten

Aspekte wie diese bleiben im Dunkeln. Ebenso wie die Zukunft des Bauwerks. Als Schutzraum kann es aktuell nicht genutzt werden, da es schon lange nicht mehr gewartet wird. Bis 2007 sah das anders aus. Alle zehn Jahre wurde der Bunker vom TÜV geprüft und notwendige Reparaturen vorgenommen. „Dadurch war er bis vor zehn, fünfzehn Jahren noch voll betriebsfähig“, weiß Egbert Heiß. Dann beschlossen Bund und Länder, dass die zivilen Schutzräume nicht weiter erhalten werden sollen. Daraufhin wurden die Weltkriegs- und Atomschutzbunker im ganzen Land zurück- und umgebaut. So auch in Bremen. Nur der Vegesacker Atomschutzbunker blieb in seinem fast ursprünglichen Zustand mit allen Anlagen und einigem an Ausstattung erhalten. Theoretisch könnte er wieder in einen betriebsbereit gemacht werden, das wäre allerdings mit viel Aufwand und Kosten verbunden. Viel interessanter ist sein historischer Wert. Nicht umsonst wurde das Bauwerk vom Bremer Landesamt für Denkmalpflege als erhaltenswert eingestuft. Dort wird die Anlage als ein zeitgeschichtliches Zeugnis betrachtet, das in seiner Unversehrtheit einen besonderen Seltenheitswert hat.

Ein Bauwerk mit historischem Wert – aus dem nichts gemacht wird

Einzigartig im nordwestdeutschen Raum, in selten gutem Zustand und Zeugnis seiner Zeit: Es gibt also einige Gründe, die dafür sprechen, mehr aus dem Bauwerk zu machen und es für die Öffentlichkeit zu öffnen. Pläne dafür gibt es jedoch nicht. Ideen allerdings schon. So setzte sich Egbert Heiß lange für die Gründung einer Initiative ein, die den Bunker als Museum etablieren sollte. Eines, das sich mit der Zeit des Kalten Krieges und den Themen Zivil- und Katastrophenschutz beschäftigt. Heiß traf bei seinen Bemühungen zwar überwiegend auf großen Zuspruch, die Begeisterung reichte allerdings nie so weit, dass sich jemand bereit erklärte, aktiv mitzuwirken. Komplett ad acta legen möchte Egbert Heiß das Thema aber noch nicht. „Ich bin überzeugt, dass der Bunker als Erinnerungsstätte für die politische Bildung im Bereich Friedenspolitik extrem wichtig ist“, erklärt er. In der momentanen Weltsituation sei das Thema aktueller denn je. Deshalb möchte er den Staffelstab weitergeben. Am besten an jemanden aus der „nächsten Generation“. An Menschen, die das Projekt wieder aufnehmen und mit Hartnäckigkeit verwirklichen.