Zukunftstechnik im Blick: Ein Gespräch mit Jochen Keibel
Die ersten Cyborgs, das Ende des Smartphones und die Verschmelzung von Mensch und Maschine.
Auch wenn unser Stadtteil von außen betrachtet manchmal ein wenig beschaulich wirkt, geht vom Bremer Norden jede Menge Zukunftspotenzial aus. Hier gibt es Menschen und Unternehmen, die an der Entwicklung von Techniken beteiligt sind, die in der Zukunft eine große Rolle spielen werden. Das ist nicht erst seit Kurzem so. Seit Jahrzehnten profitierten Menschen davon und das nicht nur in Deutschland. Dank der Passion des Hörakustikmeisters Jochen Keibel sind darunter auch viele mit einer Hörschädigung. Ich sprach mit dem gebürtigen Vegesacker über die ersten Cyborgs, über das Ende des Smartphones und darüber, wie eng Mensch und Technik in Zukunft miteinander verbunden sein werden.
Smartphone als ständiger Begleiter
Lange konzentrierte sich Jochen Keibel auf die Entwicklung innovativer audiologischer Software. Diese galt über Jahre als marktführend und auch später sorgte er mit immer neuen Innovationen dafür, dass die neusten Techniken im Bereich Hörakustik für einen breiten Nutzerkreis zugänglich wurden. Inzwischen befindet sich Jochen Keibel im Ruhestand. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab auch weiterhin den technischen Fortschritt im Blick zu behalten. Neben Elektromobilität und dem Bereich Smarthome gehört dazu auch die Verknüpfung von Mensch und Technik. „Ich bin davon überzeugt, dass die freiwillige Selbstoptimierung des Menschen durch implantierbare Technik in naher Zukunft stark zunehmen wird“, so Jochen Keibel.
Seit Jahrzehnten wachsen Mensch und Technik weiter zusammen. Dabei gibt es zwei Bereiche: den medizinischen mit Herzschrittmachern, intelligenten Prothesen, Cochlea-Implantaten und mehr, sowie den der smarten Helfer für Alltag, Hobby und Beruf. Beide Gebiete entwickeln sich stetig weiter und profitieren von den Fortschritten des anderen. Doch während der erste Herzschrittmacher bereits vor rund 50 Jahren eingesetzt und das erste Cochlea-Implantat vor 30 Jahren implantiert wurde, ist die Geschichte von Smartphone, Smartwatch, Datenbrillen und Co. noch jung. Die smarten Endgeräte etablierten sich jedoch so schnell, dass sie heute kaum noch aus dem Alltag wegzudenken sind. Als stetige Begleiter verschmelzen sie förmlich mit ihrem Nutzer. Da liegt es nahe, über den Rand von Smartphone und „Wearable“ hinweg zu schauen, und den Blick auf den nächsten Schritt zu richten: die Optimierung des Menschen mithilfe noch ausgeklügelter, kaum sichtbarer Technik – vielleicht sogar in Form von Implantaten.
Bereits jetzt gibt es erste „Cyborgs“, also Menschen, bei denen nicht ausreichend leistungsfähige Organe durch hoch entwickelte Technik unterstützt werden oder sogar ganz ersetzt wurden. Dazu gehören Träger von Cochlea-Implantaten. Diese verbinden den Hörnerv mit einem digitalen Signalprozessor, wodurch Gehörlosen wieder hören können. „Das Ohr ist das erste Sinnesorgan, das durch einen Computer ersetzt wurde“, erklärt Jochen Keibel. Ein Umstand, der umso beeindruckender ist, wenn man bedenkt, dass es bis in die 60er-Jahre kaum gesicherte Theorien über die Funktion des Ohrs gab. „Das Innenohr ist kein greifbarer Körper. Es handelt sich um einen mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum, der verschwindet, sobald man ihn öffnet“. Dies mache es schwierig das Organ eingehend zu studieren. Es gab zwar schon vorher einige Theorien, doch erst durch die Wanderwellentheorie des Georg von Békésy, für die er im Jahre 1961 den Nobelpreis für Medizin erhielt, machten die Forschungen den entscheidenden Schritt nach vorne. Dieser mündete in den ersten Cochlea-Implantaten, die Anfang der 70er-Jahre eingesetzt wurden.
Cochlea-Implantate verbinden den Hörnerv mit einem digitalen Signalprozessor.
Wie nah die Technik dem menschlichen Körper auch abseits der invasiven Therapeutik kommt, zeigt sich ebenfalls im Bereich des Ohrs. Kopfhörer können längst mehr, als Musik oder Sprache übertragen. Mit Bluetooth, Noise Cancelling und Bewegungssensor bieten sie Zusatzfunktionen, die sonst Smartphone und Co vorbehalten waren. Funktionen, die auch in moderne Hörgeräte integriert werden. Dadurch werden Hörgeräte laut Jochen Keibel immer mehr zu sogenannten „Hearables“ (smarte Kopf- bzw. Ohrhörer, mit verschiedenen zusätzliche Funktionen). So gibt es heute bereits Hearables mit integrierten Dolmetschersystemen und solche, die Bioindikatoren wie den Puls oder die Körpertemperatur messen. Auch die Ermittlung eines EEGs direkt aus dem Gehörgang wird demnächst zur Marktreife gebracht. „Die Entwicklung der Geräte ist eng mit der des Smartphones verknüpft“, erklärt der Hörakustikermeister. So speichert und verarbeitet es die Daten, die für die Funktion der weiteren Endgeräte notwendig sind, und dient als Steuerpult über das sich Einstellungen individuell regeln lassen. „Das Smartphone ist also ein kleiner Rechner, den man immer bei sich trägt“, fasst Jochen Keibel zusammen. Diese Standortunabhängigkeit macht die Nutzung bestimmter Techniken überhaupt erst möglich. Darunter die Feinabstimmung von Hörgeräten durch den Träger, wo und wann immer er will.
Hörgeräte übernehmen Smartphone-Funktionen und zeigen Entwicklungstendenzen der Zukunftstechnik
Kabellose Kopfhörer (Earbuds) und Hörgeräte sind in Optik und Funktion heute kaum noch voneinander zu unterscheiden.
Trotz der Leistungsfähigkeit des Smartphones sieht Jochen Keibel es als unausweichlich, dass viele der bisher von dort bekannten Funktionen den Schritt zum im Ohr getragenen Geräten machen werden. „Es gibt viele Experten, die davon überzeugt sind, dass sich das Smartphone in seinen letzten Zügen befindet“, so Keibel. Als prominente Beispiele nennt er die Entwickler von Apple und Samsung. Das diese Annahme stimmen könnte, erkenne man unter anderem daran, dass sich die Geräte soweit angenähert hätten, dass sie sich kaum noch voneinander unterscheiden. „Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass eine Technologie am Ende ist“. Das zeige sich auch bei den Verkaufszahlen von Apple-Geräten. Während diese bei den Smartphones stagnieren, wächst der Marktanteil der smarten Ohrhörer „AirPods“ stetig an.
Wie der Kopfhörer folgt auch das Hörgerät dem technischen Entwicklungsstand des Smartphones. „Sie wachsen immer weiter zusammen und erhalten dadurch einen vollkommen neuen Stellenwert“, weiß Jochen Keibel. Dafür gibt es konkrete Beispiele: So können Hörgeräte durch eine integrierte Bluetooth-Funktion bereits jetzt den drahtlosen Kopfhörer ersetzen und auch als Headset dienen. Damit übernehmen sie einen der naheliegendsten Bereiche des Smartphones: die Akustik. Auch Hörhilfen mit Bewegungssensor sind bereits erhältlich – eine Domäne, die seit jeher dem Smartphone vorbehalten war. Weitere, bisher in spezialisierten Hearables integrierte Funktionen werden zeitnah folgen. „Auch wenn diese Entwicklung in der allgemeinen Diskussion noch nicht präsent ist, ist man sich in Fachkreisen sicher, dass sie stringent in diese Richtung geht“, so Keibel. Kein Wunder, denn es gibt zahlreiche Aspekte, die für die Integration bestimmter Funktionen in Hörgeräte sprechen. So überträgt ein Mikrofon im Gehörgang absolut störungsfrei, da der Ton über die Schädelknochen transportiert wird. Außengeräusche bleiben außen vor und stören das Gehörte nicht.
Grenzen der Mensch-Technik-Fusion
Ein weiterer Schritt wird die Wlan-Fähigkeit der Geräte sein, erklärt Keibel. „In zwei bis drei Jahren ist die Technik marktreif“. Die Antennentechnik sei dabei die größte Herausforderung. Denn egal wie klein das Hörgerät theoretisch sein könnte, es braucht eine Antenne, die sich außerhalb des Schädels befindet. „Die Schädelknochen wirken wie ein faradayscher Käfig, in dem nichts empfangen werden kann“. An diesem Punkt zeigen sich die momentanen Grenzen der Mensch-Technik-Verschmelzung. Ein Weiterer liegt bei der Energieversorgung. So werden Batterien zwar immer kleiner, sind jedoch nicht für den Dauerbetrieb ausgelegt. Sie müssen nach einer gewissen Zeit ausgetauscht oder neu geladen werden. „Die Limitierung der Batterietechnik konnte bisher nicht überwunden werden“, so Keibel. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Weiterentwicklung von „AirPod“ und Co, sondern ist im medizinischen Bereich ebenfalls erkennbar. So ist auch das Cochlea-Implantat an der Batterie limitiert. Während sich das Implantat in anderen Bereichen stetig weiterentwickelt und die neusten Modelle eine Einheit aus Prozessor und Spule bilden, bleibt die Energieversorgung, wie sie ist. Zwar brauche es keinen auf dem Ohr sitzenden Träger mehr, aber immer noch eine Batterieeinheit, die das Gerät von außen per Induktion versorgt, erklärt Jochen Keibel. Deshalb kann bisher nur ein Teil der kosmetischen Einschränkungen des Cochlea-Implantats gelöst werden, denn erst ohne die äußere Energieversorgung wird die Technik unsichtbar.
Zukunftstechnik und Künstliche Intelligenz (KI) gehen Hand in Hand
„Bei all dem darf man nicht vergessen, dass jede dieser Entwicklungen immer mit Rechnertechnik verbunden ist“, so Keibel. Deshalb wird die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) auch Einfluss auf die Fortschritte der Mensch-Technik-Fusion haben. „Eine Zukunftsbetrachtung ohne künstliche Intelligenz ist nicht möglich“, ist der Hörakustikmeister überzeugt. Auf lange Sicht werde sie Einfluss auf alle Lebensbereiche nehmen, beim Hören werden sie sogar dramatisch sein. Bereits jetzt gibt es Hörsysteme, deren individuelle Einstellungen von einer KI analysiert und selektiert werden. Bei einer ausreichend dichten Datenlage kann die KI schließlich eigenständig passende Vorschläge machen.
Durch den Einfluss künstlicher Intelligenz können auch Normalhörende ihre Hörwahrnehmung deutlich verbessern. „Das liegt unter anderem daran, dass die KI umsetzen kann, was rein physikalisch eigentlich nicht möglich ist“, erklärt Jochen Keibel. Zum Beispiel einen bestimmten Sprecher aus einem Stimmengewirr herauszufiltern. Diese und alle anderen Vorteile sind der Grund, warum es bereits jetzt Menschen gibt, die sich Hörgeräte anfertigen lassen, ohne sie aus medizinischer Sicht zu benötigen. Stattdessen liegt der Fokus auf der Erweiterung und Verbesserung der vorhandenen Fähigkeiten und damit bei der Optimierung des Selbst.
„Der Weg zum Cyborg geht weiter“, ist Jochen Keibel überzeugt und verweist auf den Einfluss von Technik-Innovatoren wie Elon Musk. Der als Mitbegründer von PayPal und als Tesla-Chef bekannt gewordene Unternehmer entwickelt zurzeit eine Mensch-Maschine-Schnittstelle. Bereits jetzt konnten erfolgreich Sensoren ins Gehirn implantiert werden, die sich per Bluetooth über das Smartphone steuern lassen. Was zunächst motorisch eingeschränkten Patienten zugutekommen soll, wird sich nach Musks Überzeugung auf lange Sicht auch auf andere (Lebens-)Bereiche auswirken. Um den Zugang zu dieser Technik zu erleichtern, will er die Operation künftig so einfach gestalten, wie das Lasern einer Sehschwäche.